Fachartikel | 15. August 2022
Latein, Roben und das Tischgebet: Die seltsamen und wunderbaren Oxbridge Traditionen - Meine Erfahrungen an der University of Cambridge
Den ersten Satz, den ich zu all meinen Besuchern in Cambridge bisher gesagt habe, war: „Cambridge ist wie ein Paralleluniversum, es fühlt sich so an als würde man hier in einer anderen Welt leben.“ Bis heute glaube ich, dass dies die passendste Beschreibung (zusammen mit den zahlreichen Hogwarts-Vergleichen) ist.
Was macht Cambridge so besonders? Für mich ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren, in die ich Euch einen Einblick geben will.
Kurz vorab: Wer eine trockene Auflistung und Erläuterung der Annahmekriterien und der Eigenschaften des Studiengangs möchte, kann gerne einen anderen Artikel lesen oder Google bedienen.
Das College System
Um direkt zu den Harry Potter-Vergleichen zurückzukehren, Cambridge hat in diesem Sinne nicht 4 sondern 31 Häuser bzw. Colleges. Diese kann man sich wie kleine ummauerte Städte innerhalb von Cambridge vorstellen. Hier befinden sich die Unterkünfte der Studenten, der große Essensaal in dem Frühstück/ Lunch oder Abendessen serviert werden, eine „Formal Hall“ (später mehr dazu), eine Studentenbar, eine Bibliothek, Sportanlagen, usw. Kurz um, es ist eine kleine Welt für sich und der soziale Mittelpunkt für das Leben der meisten Studenten - hier wird gelebt, geschlafen und gegessen.
In den Colleges sind i.d.R. keine oder nur wenige Kommilitonen aus demselben Studiengang. Vielmehr mischen sich hier Bachelor, Master und PhD-Studenten aller Nationen und Fachrichtungen – von Medizin, über Quantum Computing bis Finance war bisher alles schon dabei. Das macht es meiner Meinung nach auch so besonders. Die Colleges haben in Cambridge eine sehr prestigeträchtige Rolle. Die Entstehung der ersten Colleges geht bis ins Jahr 1284 zurück und das haben sie sich auch bis heute architektonisch bewahrt. Sie sind für mich mit der beeindruckendste Teil meiner Zeit hier. Jedes College ist verschieden, manche unscheinbar, manche pompös und alle besonders auf ihre Art und Weise.
Viele Colleges sind für bestimmte Fachrichtungen bekannt und berühmt: Trinity (Physik & Mathematik), Churchill (Science), St. John‘s (Business & Law), um nur ein paar Beispiele genannt zu haben. Zudem sind die universitätsinternen Wettbewerbe aller Colleges gegeneinander in allen Sportarten (Rudern, Fußball, Rugby, …) große und unterhaltsame Events.
Bei der Bewerbung sollte man einige Zeit in seine College-Wahl investieren. Es gibt wenig das das Umfeld und die komplette Erfahrung eines Studenten so prägt, wie sein jeweiliges College (mein Tipp für Postgrads, Darwin College - best bar in town).
Ein weiterer Faktor, der ebenfalls einen starken Einfluss hat, sind die Societies der Universität.
Societies
Dadurch, dass Cambridge ca. 20.000 Studenten hat, gibt es eine enorme Varietät an Fachrichtungen, Persönlichkeiten und dadurch auch an Interessen. Und glaubt mir, hier gibt es nichts, dass es nicht gibt - man kann hier ‚Beton Infrastruktur’ studieren, kein Scherz. Durch die Societies hat man die Chance über seinen Kurs und College hinaus neue Leute kennen zu lernen und seinen Hobbies/Interessen nachzukommen.
Um euch ein Gefühl zu geben, ich bin Mitglied der: German Society, Chess Society, Blind Wine Tasting Society, The Cambridge Union (der Debattierclub), Investment Banking Society, Hughes Hall Boat Club (Ruder Club) und vermutlich habe ich noch ein paar vergessen.
Alle diese Societies haben regelmäßige Events, Partys und Termine, so dass einem nicht ansatzweise langweilig wird - wenn man das möchte.
Falls Ihr Zeit und Lust habt, googelt “The Cambridge Union” (der Debattierclub). Es gibt auch einen YouTube Channel der Society. Für mich mit Abstand die spannendste Society, bei der ich schon den verschiedensten Speakern (von Jordan Peterson bis zum Premier League CEO) zuhören durfte. Mehr dazu würde allerdings den Rahmen hier sprengen.
Formal Halls
Hier kommen wir zum Grund meines Titels zurück: „Latein, Roben und das Tischgebet: Die seltsamen und wunderbaren Oxbridge Traditionen - Meine Erfahrungen an der University of Cambridge“
Eigentlich hätte ich das Thema ‚Formal Halls‘ unter Colleges zusammenfassen können. Für mich, der vor seinem Studium keine Ahnung von der Oxbridge Kultur hatte, war es jedoch eines der spannendsten und schönsten Erlebnisse hier.
Formal Halls sind im wesentlichen Feierlichkeiten mit gutem Essen, 700 Jahre alten Hallen und Wein, sehr viel Wein. Eine herrliche Tradition, die einem strengen Ablauf folgt. Ähnlich zu den großen Festmahlen im großen Saal von Hogwarts. Als erstes warten die Studenten, alle in ihren traditionellen Roben, im Gemeinschaftsraum, bevor vom Master ein großer Gong geschlagen wird - das Signal, dass nun alle die Formal Hall (den feierlich gedeckten Speisesaal) betreten dürfen.
Es ist üblich, im Stehen zu warten, bis sich der Master setzt. Dann wird in der Regel ein lateinischer Spruch wie "benedictas benedictum" gesagt und danach wird der erste Gang serviert. Beim Essen muss eigentlich nur auf eine Sache aufgepasst werden - den Penny. Wird von jemand anderem am Tisch ein Ein-Pence-Stück in dein Weinglas geworfen, musst du es bis zum Rand füllen und es dann „down the hatch“ leeren. Wie versprochen, Wein, sehr viel Wein. Die erste Formal Hall war für mich absolut surreal. Man betritt einen Raum voller Studenten, alle im Anzug und darüber eine Robe, geht danach weiter in einen oft extrem schönen alten Saal, bekommt sehr gutes Essen, viel Wein, hat einen guten Abend mit Freunden und lernt gleichzeitig neue Leute kennen. Für mich eine der schönsten Traditionen hier.
Das Studium
Nun zu den Nebensächlichkeiten - dem Studium. Ich absolviere hier aktuell eine post-experience Master of Finance. Das Studium ist auf ein Jahr, bestehend aus vier Terms, komprimiert. Das macht das Jahr sehr intensiv, große Pausen gibt es nicht.
Ich will hier direkt auf den Kern kommen und die Hauptvorteile herausstellen:
1. Der Name & die Universität
Dazu muss nicht viel gesagt werden. Der Name steht für akademische Exzellenz und wird euch ein Leben lang helfen. Die Annahmequoten sind sehr gering.
Darüber hinaus ist Cambridge jedoch auch eine große Universität, die ein hervorragendes Netzwerk in alle Industriebereiche bietet. Dies in Kombination mit der gelebten Offenheit der Colleges und Societies ermöglicht es Euch besonders in die Bereiche die Euch interessieren tief einzusteigen. Das findet man so nur noch in Oxford.
2. Die Wahlmöglichkeiten
Der Studiengang ist so ausgelegt, dass es extrem viele Wahlfächer und Individualisierungsmöglichkeiten gibt. Für jemanden der ins Investmentbanking will gibt es z.B. die Fächer: M&A, Advanced Financial Accounting, Advanced Corporate Finance, Private Equity, DCF & LBO Modeling Kurse, usw.
Für jemanden der Asset Management machen will: Quantitative Finance, Investment Management, Fixed Income, Hedge Funds, Python in Finance, usw.
Dies sind nur Beispiele, es gibt noch deutlich mehr.
3. Der Studiengang ist praxisnah
Das mag man von einem Studium in Cambridge weniger erwarten, ist jedoch absolut der Fall. Jede Woche gibt es einen Speaker aus der Praxis, der von London nach Cambridge kommt und seinen Geschäftsbereich und Job präsentiert und der Euch Leute aus diesem Bereich vorstellen kann. Hinzu kommen zahlreiche Networking Events durch das Careers Center.
4. Das Alumni Netzwerk & die Kommilitonen
Einer der Alumni oder sogar einen euren Kommilitonen macht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit euren Traumjob. Besonders langfristig gesehen ist dieses Netzwerk extrem wertvoll, auch wenn es kurzfristig vielleicht nicht hilft.
Wie angesprochen, kann das Studium zeitweise sehr intensiv sein, da es auf ein Jahr ausgelegt ist. Es wird auch Dinge wie 24h-Klausuren geben.
Ein Master nach dem dualen Studium?
Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich in der Position bin Ratschläge zu geben, werde es an der Stelle trotzdem machen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Problematik des dualen Studiums ist, dass viele danach in sehr jungem Alter einen Job anfangen, der meist relativ gut bezahlt ist. Das an sich ist nicht schlecht, aber es schränkt die wahrgenommenen Optionen und potentiell ein Jahr in der Persönlichkeitsentwicklung ein. Der Weg ist vorgezeichnet und viele wissen noch gar nicht wirklich, ob das eigentliche Interesse wirklich in dem Bereich liegt, den man sehr jung eingeschlagen hat. Trotzdem ist man schon fast in diesem Weg gefangen.
Das mag für manche natürlich auch ganz anders aussehen und das ist der Traumjob/-firma für die nächsten Jahre. Bei Betrachtung der Fluktuation in meinem Jahrgang, scheint mir das jedoch eher die Ausnahme.
Mir hat es sehr geholfen ein Jahr zu nehmen, um ins Ausland gehen zu können, in andere Branchen Einblicke zu bekommen, mit ganz anderen Leuten zu sprechen und Praktika in anderen Bereichen zu absolvieren. Es ist vielleicht für längere Zeit die letzte Möglichkeit.
Ich habe es keine Sekunde bereut, habe gute Freunde aus der ganzen Welt kennengelernt, konnte meinen Leidenschaften nachgehen, verstehe die Finanzindustrie (hoffentlich) deutlich besser als vorher, weiß in welchem Bereich ich danach arbeiten will und habe natürlich zu viel Alkohol getrunken - aber damit kann ich leben. Danke an alle, die bis hierhin gelesen haben, ich hoffe es war unterhaltsam.