Veranstaltungen | 10. Dezember 2018
Schon die New York Times hat es erkannt: Das Frankfurter Bahnhofsviertel befindet sich im Wandel und ist in jedem Falle einen Bericht wert. Somit war es auch für die Bank...Verbindung an der Zeit das aufregende Viertel der Stadt einmal anders kennenzulernen. Gleich zu Beginn war spürbar, dass unser Führer Ullrich (Ulli) Wagner weiß wovon er spricht. Seine Faszination für das Viertel der Gegensätze hat der eigentliche Journalist und Fotograf während seiner Arbeiten für sein Buch entdeckt. Hierfür war er gezwungen sich näher mit den verschiedensten Facetten und Charakteren des Stadtteils zu beschäftigen. Seine Begeisterung geht sogar so weit, dass in das belebte Viertel umgezogen ist.

Nach einer kurzen Vorstellrunde ging es nun endlich los. Erster Stopp – Youth Hostel. Kaum hundert Meter vom Eingang des Frankfurter Hauptbahnhofes entfernt, gleich zu Beginn der Kaiserstraße auf der linken Seite, findet sich die große Eingangstüre. Nachdem Ulli geklingelt hatte, ging die Türe auf. Wir fanden uns in einer überraschend gepflegten und üppig verzierten Eingangshalle wieder. Viele der Häuser stammen aus der Vorkriegszeit und wurden von überwiegend wohlhabenden Juden gebaut. In dieser Zeit war der Bahnhof sowohl das logistische Zentrum der Stadt, als auch das des Wohlstandes. Nach mehreren Stockwerken kamen wir nun an unser Ziel. Nachdem wir in den Hauptraum, die Bar und das Herz des Hostels, getreten waren, blickten uns viele verwunderte und zumeist touristische Augen an, denn kaum ein Frankfurter kennt diesen Ort. Ob auf einen überraschend preiswerten Cappuccino, ein Bier oder eine (ab 17 Euro!) gemütliche Übernachtung in einem Mehrbettzimmer, das Youth Hostel ist in jedem Falle einen Besuch wert.

Unsere nächste Station war kaum 300 Meter weit entfernt: die Pilsstube Pfiff. Schon die herzliche Begrüßung zwischen unserem Führer und den Barkeepern lies vermuten, dass dies nicht der erste Besuch in der Bar ist. Wir folgten Ulli durch den kleinen Barraum über eine enge Treppe in ein Hinterzimmer im Keller der Pilsstube. Wie es sich anhört, fühlte es sich zunächst auch an. Wir setzten uns rund um eine, zugegebene etwas eigenartige, Tafel und Ulli gab uns mit seiner Präsentation einen intensiveren Einblick in das Bahnhofsviertel mit all seinen Seiten. Seine Bilder zeigten auch Charaktere und Geschichten. Ob es der auf Kundschaft wartende Transsexuelle oder die Prostituierte an der Straßenecke war, wir waren gefesselt. Spätestens als wir ein „Aufnahmeformular“ einer Domina vor Augen hatten, waren wir von der Welt ohne Tabus gepackt.
Neben der Faszination waren wir nach unserer „Aufklärung“ ein wenig geschockt, aber dennoch neugierig. Wir wurden nicht enttäuscht, unsere nächste Station brachte uns Mitten ins Geschehen. Wenige Minuten nach dem Pfiff fanden wir uns in einem Laufhaus wieder. Während des Weges führte dies schon unter den Teilnehmern zu Feststellungen wie: „Kaum sind wir verheiratet, gehen wir ins Bordell.“ Eine richtige Tür gab es nicht, theoretisch ist der Zutritt für Jeden möglich. Allerdings wurden wir aufgeklärt, dass der Eingang videoüberwacht ist, wodurch der Zutritt Unberechtigter verhindert werden soll. Ulli hatte uns hier ein Treffen mit dem „Mädchen für Alles“ organsiert.

Gewissermaßen in der Kommandozentrale des Bordells, konnten wir für einige Momente in den Arbeitsablauf vor Ort blicken. In dem kleinen Büro, kaum zehn Quadratmeter groß, befanden sich die Bildschirme der Überwachungskamera auf der einen, und eine Tafel mit Lichtern auf der anderen Seite. Der Platz dazwischen wurde durch zwei Spinde gefüllt. Spärlich eingerichtet durfte eine Sache nicht fehlen, ein Baseballschläger. Wofür war die Tafel mit den kleinen Lichtern? Die Lichter sind für den Notfall, jedes der Zimmer ist mit Attrappen ausgestattet, die wie Lichtschalter aussehen. Werden diese betätigt, leuchtet das Licht für das betreffende Zimmer auf und das „Mädchen für Alles“ ist informiert. Zunächst gibt es einen Kontrollanruf, ist es kein Fehlalarm, danach wird schnell deutlich wieso der Baseballschläger dort steht. Auf unsere Nachfrage erfahren wir, dass es jedoch äußerst selten zu solchen Maßnahmen kommen muss. Während des Gesprächs wandern unsere Blicke immer wieder auf die Bildschirme. Aufgebaut wie ein Hotel wird schnell klar, wieso ein solches Etablissement „Laufhaus“ heißt. Die Besucher gehen von Stockwerk zu Stockwerk, von Frau zu Frau, bis sie ihr gewünschtes Ziel erreicht haben. Auffällig ist, dass keine der Frauen einheimisch zu sein scheint. Ulli verrät uns, dass die Prostituierten seit einigen Jahren hauptsächlich bulgarisch und rumänisch sind. Durch die EU ist die Einreise unkompliziert. Das schnelle Geld lockt viele aus den ärmeren Ländern nach Deutschland. Meist kommen die Frauen mit einem männlichen Verwandten, beispielsweise dem Ehemann oder Bruder. Während die Frauen häufig schnell und ungewohnt viel Geld für die Verhältnisse in der Heimat verdienen, ist es für deren Begleitung mitunter schwierig eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. In vielen Fällen führt dies zur Drogen- oder Spielsucht. Neben der Sucht entsteht dadurch ebenfalls das Gefühl von Nutzlosigkeit und Ziellosigkeit, denn wer finanziert die Sucht? Korrekt, die Ehefrau oder Schwester. Wir ahnen, viele der Frauen und Männer befinden sich in einem Teufelskreis. Auch unser „Mädchen für Alles“ bestätigt den Eindruck und es wird klar, dass er nicht nur Hausmeister und Mann fürs Grobe, sondern auch vielmehr ein Seelsorger und Freund für viele der Frauen ist. Doch nicht nur die Nationalität der Frauen erstaunt uns. Wir erfahren, dass der Großteil der Freier muslimisch ist; denn das Verbotene ist seit jeher reizvoll.
Mit dem Besuch des Laufhauses war unser Ausflug in das Rotlichtmilieu des Bahnhofsviertels zunächst zu Ende. Gespannt folgten wir Ulli weiter. Einige Straßen Richtung Main standen wir vor einer Kirche. Verwundert was nun kommt, verschwand Ulli für wenige Minuten in einer Art Büro. Zurück kam er mit einem Schlüssel. Wer sich mindestens einen Tag vorher anmeldet, kann in Mitten des Viertels umsonst übernachten. Durch eine Künstlerin in dem Kirchturm installiert, befindet sich dort eine Nachempfindung einer Klosterzelle. Sehr einfach, jedoch sehr sauber, bietet sich hier eine kostenfreie Übernachtungsmöglichkeit (ohne Dusche/WC).
Auf dem Weg zu unserem letzten Ziel, hat Ulli uns noch etwas Spannendes und Überraschendes verraten: die wahren Profiteure des Rotlichts. Auf den ersten Blick könnte vermutet werden, dass bestimmte Clubs wie die Hells Angels die Türe und das Geld der Etablissements kontrollieren. Die Kontrolle betreffend mag dies korrekt sein, doch wir erfahren, dass auch die Clubs nur Pächter der Immobilien sind. Als Pächter sind diese von den Mieten der Eigentümer abhängig, der Gewinn ist immer an diese gekoppelt. Somit liegt die Macht im Bahnhofsviertel bei den Immobilienbesitzern, die meist vermögende jüdische Familien sind. Mit dieser Erkenntnis ist unser Einblick in das Rotlicht nun zu Ende.
Obwohl wir das Rotlicht nun hinter uns gelassen haben, die Gegensätze verstärkten sich weiterhin. Kaum ein anderer Ort weltweit vereint solch einen Sprung zwischen Arm und Reich. Überall im Viertel zeigen sich Spuren hiervon. Wohl die offensichtlisten sind die Hochhäuser der Banken, in denen täglich Milliarden transferiert werden, Tür an Tür mit den Fixerstuben der Abhängigen, in denen es um das pure Überleben geht, von Schuss zu Schuss. Ulli erzählte uns, dass die Abhängigen jeden Tag 80-120 Euro brauchen und diese meistens irgendwie zusammenbekommen. Auch auf dem Weg zu unserem finalen Ziel fanden wir weitere Gegensätze. Noch mit dem Geruch menschlicher Exkremente in der Nase stoßen wir auf ein Sternerestaurant. Überall im Viertel finden sich beliebte und gut besuchte, versteckte Bars oder Szenekneipen, gleich neben den Eingangstüren von gewissen Lokalitäten. Solch ein beliebter Ort ist auch unsere letzte Station, das Yok Yok.

Dass das Kultkiosk kein Geheimtipp mehr ist wurde schnell klar; wir kämpften uns den Weg durch die Menschenmasse in ein Hinterzimmer. Auch hier wurden wir überrascht, gerade war eine Künstlerin dabei, den gesamten Raum in ein Kunstwerk zu verwandeln. Ihre Erlebnisse durch ihre psychologische Erkrankung brachte sie mit dem Pinsel auf ihre Leinwand, die Wände. Während wir dort nun alle versammelt standen, verabschiedeten wir uns mit einem original „Yok Yok“ (Tee mit Wodka) von Ulli.
Das Erlebte ließen wir anschließend in der Jambo Bar nochmal passieren, denn wir hatten einiges zu verarbeiten. Ulli war es gelungen uns in seine Welt zu entführen. Die Sicht auf das Bahnhofsviertel hat sich für viele geändert. Sei es der Blick hinter die Kulissen des Milieus oder Existenz der Gegensätze von Arm und Reich, wir haben diesen besonderen Stadtteil Frankfurts besser kennen- und verstehen gelernt.